Das könnte jetzt sehr lang werden, aber vielleicht auch für einige erhellend. Denn ich habe mich schon häufiger mit der Thematik beschäftigt (müssen).
1. Zu Günter Grass
Ich bin Literaturwissenschaftler. (BÄÄÄM!)
Als solcher ist mir Grass natürlich ein Begriff und ich habe seine wichtigsten Werke gelesen, in denen er sich differenziert mit dem Aufwachsen im Nationalsozialismus beschäftigt. Das sind tolle Bücher, wenn man daran interessiert ist zu verstehen, wie die Jugend damals drauf war und wie sie manipuliert wurde, wie Grass selbst manipuliert wurde, wie er es später erkannt hat. Ja, er hat es erkannt. Ja, er trat mit 17 Jahren der Waffen-SS bei. Und ich behaupte, wir alle hätten damals auch danach gestrebt, denn in der Schule hätte man uns nichts anderes beigebracht.
Wenn man einem 84 Jährigen Grass das Recht Kritik zu äußern abspricht, weil er mit 17 in der Waffen-SS war, spricht man nicht nur ihm, sondern allen Menschen die Möglichkeit ab, die eigenen Fehler zu erkennen und eine zweite Chance zu bekommen.
Grass hat diese zweite Chance nur bekommen, weil er seine SS-Mitgliedschaft damals verschwiegen hat. Hätte er sie direkt offen zugegeben, hätte er nie einen Verleger gefunden, hätte ihn nie jemand angehört, hätten wir nie seine Bücher lesen können. Das wäre echt Schade gewesen, denn Grass hat seinen Nobelpreis echt verdient!
Allerdings muss ich eines auch sagen: Grass ist ziemlich von sich selbst überzeugt und tut sich häufig als Richter und moralische Instanz hervor. Man könnte glatt von einem blasiertem Arschloch sprechen. Oft genug hätte er besser die Klappe halten sollen. Kritik gegen sich lässt er aber nicht zu, wie wir auch momentan sehen dürfen.Dieses Mal finde ich aber zumindest den Zeitpunkt, eine Diskussion anzustoßen, recht passend.
2. Das Gedicht...
...ist meiner bescheidenen Meinung nach gar keins, selbst kein Prosa-Gedicht. Aber Literaturwissenschaft spielt hier eh eine untergeordnete Rolle.
Es hat einige wahre Ansätze, einige undurchdachte Stellen, einige unsaubere Formulierungen. Man merkt schon, dass Grass alt wird. Von der Vernichtung des iranischen Volkes zu sprechen ist Quatsch. Die Atombombe, die 80 Millionen Menschen tötet, muss erst noch erfunden werden. Und auch ich sehe in der iranischen Regierung den eigentlichen Aggressor, jedoch trägt die israelische Regierung mit ihrer offenen Werbung um Verbündete bei einem Angriffskrieg (Das Wort "Präventivkrieg" ist ein Euphemismus. Ein Krieg zur Verhinderung eines Krieges ist ein Paradoxon. Es gibt nur Angriffskriege.) nicht gerade zur Deeskalation bei.
Ich sehe vor allem keinen Antisemitismus. Grass kritisiert die Politik der israelischen Regierung. Er kritisiert nicht das Judentum.
3. Die Reaktion
Jetzt wird es eigentlich interessant. Denn bevor noch jemand überhaupt das Gedicht ganz gelesen hatte, schallte es aus der ganzen Republik laut: "Antisemit!"
Für mich ist das reaktionäre Verhalten der deutschen Presse vor allem ein Zeichen, dass es hierzulande einfach immer noch nicht möglich ist, eine vernünftige, objektive Diskussion - zu der nun mal Kritik gehört - über den Staat Israel zu führen. Wie ein pawlowscher Hund ist Politik und Presse darauf konditioniert, bedingungslos zu Israel zu stehen. Schließlich hat man eine Erbschuld. Erbe verhindert übrigens die Zuwendung zu neuen Ufern.
Ich habe keine Ahnung, warum ich Israel nicht kritisieren sollte, wie ich jeden anderen Staat der Erde auch kritisieren darf. Es haben doch alle irgendwo Dreck am Stecken, selbst Luxemburg (Entschuldige, Burgherr!). Die Menschen im Gaza-Streifen leben wie Hunde und daran ist Israel nicht ganz unschuldig. Und beim Massaker von Sabra und Schatila sahen israelische Soldaten nur dabei zu, wie die unter ihren Schutz stehenden Palästinenser abgeschlachtet wurden. Oberbefehlshaber Ariel Sharon wurde zum Dank später noch zum Präsidenten befördert, mitverantwortlich für eine Tat, die von der UN als Genozid eingestuft wurde. Laut Menschen wie Henryk M. Broder bin ich jetzt ein Antisemit, weil ich nicht 100% zu Israel stehe, wie es ja meine Pflicht als aufgeklärter Deutscher sein sollte. Aber wer so denkt, ist selbst nichts als ein Extremist.
4. Antisemitismus
Ich kann das Wort nicht mehr hören. Es ist in unserem Land zu einem inflationär verwendeten Totschlagargument verkommen. Nur selten aber wird es richtig angewandt. Denn durch eine deutsche Unsitte wird Israel mit dem jüdischen Glauben gleichgesetzt. Und das ist Bullshit. Wenn ich Israel kritisiere, kritisiere ich primär die Regierung. Dasselbe gilt für den Iran und für jedes andere Land auch. Ich kritisiere nicht die Religion, denn Religion bedeutet mir persönlich eh keinen Pfifferling. Religion ist oft genug ein Denkmantel für politische Interessen. Ahmadinedschad hat ein großes politisches Interesse daran, Israel beständig zu drohen, denn er hält so seine konservativen Wähler bei der Stange und kann auch prima von inneren Problemen ablenken. Die Taktik verfolgen US-Präsidenten übrigens bereits seit Jahrzehnten. Israels Regierung ist es übrigens auch gar nicht so unrecht, bedroht zu werden, denn der Wähler hält an den starken Männern an der Spitze fest und man hat bessere Karten bei den westlichen Partnern. Die Menschen in Israel, die gerade das Einreiseverbot für Grass und die Aberkennung des Nobelpreises fordern, sind übrigens Rechtspopulisten. Ja, die gibt es auch in Israel und nicht zu knapp, was kein Wunder ist in einem Land, dass einer permanenten Bedrohung gegenüber steht.
5. Persönliche Meinung
Gut, natürlich war das alles zuvor auch persönlich. Aber ich möchte nochmal eines klarstellen: Ich kann da unten fast alle verstehen. Ich kann den Israeli verstehen, der verdammte Angst hat, weil um ihn herum nur Feinde lauern und der deswegen rechts wählt, weil er sich mit Aufrüstung sicherer fühlt als mit Friedensgesprächen. Ich kann den Libanesen verstehen, der sauer auf Israel und die Christen ist, weil seine Eltern beim Massaker in Sabra von den Christen getötet wurde, die die Israelis bereitwillig in das Flüchtlingslager ließen. Ich kann den armen Tropf verstehen, der in Gaza geboren wurden, diesem 40 Kilometer langen Gefängnis, von Mauern umgeben, von Terroristen regiert, in Armut lebend, und da nicht weg kann.
Ich kann da alle verstehen, aber das zeigt auch, wie kompliziert die Lage da unten ist. Es gibt kein Gut und Böse, kein Schwarz und Weiß. Auch beim Iran nicht. Klar ist Ahmadinedschad ist Arschloch, aber erinnern wir uns an die grüne Revolution, die Hunderttausenden, die auf die Straße gingen und für ihre Freiheit und für einen besseren Iran zu kämpfen. Sie wurden niedergeschlagen, aber sie sind noch da. Und ihre Zeit wird kommen, denn sie sind der junge Iran, der die alten Fundamentalisten ablösen wird.
Niemand da unten will Krieg, außer ein paar Bescheuerten, denen nicht mehr zu helfen ist. Ich bin überzeugter Pazifist (inkl. Wehrdienstverweigerung). Als solcher werde ich Israel nicht dabei unterstützen, um Krieg zu werben. Und der Iran muss Atomkontrollen zulassen (Israel übrigens auch, das machen sie nämlich nicht.) und mit politischen Mittel daran gehindert werden, Israel anzugreifen. Keine Region dieser Welt wurde mehr und länger umkämpft. Das können wir schon im Alten Testament nachlesen. Ich werde es vermutlich nicht mehr erleben, dass da Friede einkehrt. Aber ich weiß eines: Keine Bombe wird dabei helfen. Stattdessen sollten wir für Bildung und Aufklärung im Volk sorgen. Denn nichts ist nachhaltiger und effektiver als ein innerer Reinigungsprozess, wenn all die sonst so leicht beeinflussbaren Menschen selbst erkennen, dass Aggression nie der Weg zu Frieden sein kann.
Das war das Wort zum Mittwoch. Gute Nacht!