CharLu
Bekanntes Gesicht
- Mitglied seit
- 12.12.2001
- Beiträge
- 11.741
- Reaktionspunkte
- 0
Habe heute einen sehr, sehr interessanten Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" entdeckt, der - zumindest mir - sehr aus dem Herzen spricht, sehr zum Nachdenken anregt und am Ende den Lichtpunkt im Tunnel noch weiter entfernt .. dieser Artikel paßt auch sehr gut hierher, da hier gerne und oft über das TV und sein Programm philisophiert wird - aber macht Euch am Besten selbst ein Bild:
Den kompletten und sehr ausführlichen Text mit aufschlussreichen und interessanten Ein- und Ansichten findet ihr hier.
Das Leben vor und in der Glotze
Das Drama ist der Alltag: Hartz IV, Furz Drei und die Geheimnisse des so genannten Unterschichtenfernsehens, in dem es nur bedingt um Bildung geht.
Von Holger Gertz, Süddeutsche Zeitung
Es ist schwierig, einen Termin bei Borris Brandt zu bekommen, er hat verdammt viel zu tun. Im Büro geht gar nichts, hatte seine Mitarbeiterin am Telefon gesagt, auch abends nicht, abends hat er noch eine Besprechung. Bleibt nur die Zugfahrt, zwischen zwei Sitzungen, nachmittags vielleicht, da kommt er aus Frankfurt und muss nach Köln, 15 Uhr fährt der ICE ab, der Platz für Borris Brandt sei reserviert. Wagen 28, Platz 36.
Borris Brandt fährt Erste Klasse.
Er sieht auch erstklassig aus, Hemd und Dreiteiler, der Bart auf Viertageslänge getrimmt. Seine Turnschuhe, weinrot mit gelben Streifen, sind der einzige Farbtupfer in Wagen 28, in dem sonst die Boss-Träger sitzen, Frankfurter Banker vielleicht. Es riecht nach teurem Aftershave, aus Aktentaschen lugt das Handelsblatt. In der Ersten Klasse rauscht die Upperclass, die Oberschicht durchs Land, und irgendwie sind die bunten Turnschuhe des vergnügten Borris Brandt wie ein Signal dafür, dass er da nicht so richtig hineinpasst. Die Tür schließt sich mit leisem Fauchen.
Borris Brandt reist mit der Oberschicht. Aber er ist im Auftrag der Unterschicht unterwegs.
Im Unterschichtenfernsehen werden Unterschichtler von Unterschichtlern gesehen. Die Gesellschaft für Konsumforschung hat das gerade ermittelt: Arbeitslose sehen im Schnitt täglich 5 Stunden und 17 Minuten fern, anderthalb Stunden mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie schauen gern Talkshows und Reality-Serien; sie informieren sich eher bei RTL aktuell als bei der Tagesschau. Sie sehen anders fern als die Reisenden in Wagen 28. Sie sind anders.
Er sagt: "Bei dem Fernsehen, was wir machen, ist ja kein großer Bildungsauftrag dahinter." Allerdings schauten das nicht nur Arbeitslose, sondern vor allem Hausfrauen, auch Kinder von 14 bis 19. Etwas lernen kann man übrigens doch, bei Big Brother. "Wie fängt Streit an, wie lebt man mit Streit, wie hört Streit auf. Und Beziehungsanbahnen. Das lernen tatsächlich Kids bei uns."
Bei Big Brother lief das Beziehungsanbahnen am Tag zuvor so ab: Der Mann sagt: "Ich bin wirklich gut im Bett, sag ich jetzt ohne Scheiß." Die Frau sagt: "Man sagt ja, wenn ein Typ gut tanzen kann, ist er auch gut im Bett." Der Mann sagt: "Ich kann tanzen wie ein junger Gott. Ohne Scheiß. Richtig geil."
Wer einen Tag RTL 2 schaut, sieht also, wie bei Big Brother Beziehungen angebahnt werden. Er sieht schlecht gemachte Zeichentrickfilme. Werbung für Handyklingeltöne, Tierfilme über australische Beutelwölfe, die in toten Tieren herumwühlen. Irgendwann kommen ein paar Minuten Nachrichten, die news heißen und sich ausführlich der Schwangerschaft von Britney Spears widmen.
Wer am selben Tag Arte einschaltet, den Kulturkanal auf der anderen Seite der Fernbedienung, sieht morgens Berichte über fast vergessene Regisseure des Film noir, später einen Bericht aus einer Waldorfschule, danach eine Dokumentation über den Völkermord an den Armeniern und schließlich ein italienisches Schwarz-Weiß-Drama von 1946.
RTL 2 bildet ab. Arte bildet. Beides ist Fernsehen, mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht.
Das Fernsehen ist nicht verantwortlich. Aber es vergrößert die Kluft zwischen Zeit-Lesern und Bild-Lesern. Zwischen Arte-Fans und Big-Brother-Fans. Es macht nur die Klugen klüger, stand neulich im Spiegel. Professor Nolte sagt, so kann man es sehen.
Die Helden von Big Brother sind seitdem keine Helden für alle mehr, sondern führen ein stabiles Nischenleben in ihrem Programm, bei den Privaten, bei ihrem Publikum, dem sie eine Heimat geben. Wer sich sein Weltbild im Privatfernsehen zusammenzimmert, wird bei Pro7 einen Menschen namens Elton sehen, der nicht singen kann und nicht tanzen kann und nicht moderieren kann. Der nichts kann. Er sieht ein bisschen aus wie Elton John, deshalb heißt er so. Ihm länger als fünf Minuten zuzusehen ist eine Qual. Dass ihm trotzdem so viele länger zusehen, beweist, dass er Bedürfnisse befriedigt.
Vielleicht ist es doch so, wie die Soziologen sagen, dass das Privatfernsehen denen da draußen, die so ähnlich sind wie Elton, das Gefühl gibt, trotz allem irgendwie durchzukommen. Und dass ein Fernsehen mit einem Bildungsauftrag bei den Eltons da draußen das Gefühl verstärkt, ein Verlierer zu sein. Dass am Ende die Gesellschaft immer weiter auseinander driftet. Und daran ist doch auch das Fernsehen schuld, Brandts Fernsehen. Weil es mehr erzieht, als er zugeben will. Und weil es nicht darauf angelegt ist, etwas zu verändern.
Den kompletten und sehr ausführlichen Text mit aufschlussreichen und interessanten Ein- und Ansichten findet ihr hier.